>> AHEM...IN GERMAN...
ZEITGESCHICHTE
"Krieg gegen die Schwachen"
Anfang vorigen Jahrhunderts beschlossen amerikanische Forscher, Politiker und Viehzuchter die "Schaffung einer uberlegenen nordischen Rasse". 60 000 Manner und Frauen, zumeist Arme und Farbige, wurden zwangssterilisiert - Anregung fur das Eugenik-Programm der Nazis.
AP
Einwanderer bei der Ankunft in New York: "Die romantische Idee vom Schmelztiegel Amerika ist ein Mythos"
Das typische Opfer war irgendwie auffallig geworden, meist nicht besonders intelligent, haufig aggressiv, fast immer sexuell aktiver als der normale Kirchganger der Gemeinde und hauste nicht selten in Bretterverschlagen am Ortsrand. Vor allem war das typische Opfer: arm.
Gedeckt von eugenischen Gesetzen, verstummelten US-Arzte bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts uber 60 000 Manner und Frauen durch Sterilisation. Den Eugenik-Opfern im zeugungs- und gebarfahigen Alter wurden die Samenleiter durchtrennt, die Hodensacke abgeschnitten, die Eileiter abgebunden und die Eierstocke oder Gebarmutter entfernt.
Das ganze Ausma? dieses Medizin-Verbrechens beschreibt der amerikanische Publizist Edwin Black jetzt in einem Aufsehen erregenden Buch*. Mit Hilfe Dutzender Rechercheure trug er rund 50 000 einschlagige Dokumente aus amerikanischen und europaischen Archiven zusammen. Zudem wertete Black Tagebucher, Gerichts- und Krankenakten Betroffener aus.
Der auch in den USA bislang weithin unbeachtete "Krieg gegen die Schwachen" (Black) zielte auf die "Schaffung einer uberlegenen nordischen Rasse". Der Autor, der auch schon die Verstrickung des Computerkonzerns IBM mit der NS-Vernichtungsmaschinerie durchleuchtet hatte, schildert den "Kreuzzug" einer Clique einflussreicher und angesehener US-Burger, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, mit Hilfe der Eugenik die Vereinigten Staaten von armen, einfaltigen, kranken, kriminellen und - vor allem - farbigen Einwohnern zu befreien.
In vielen US-Staaten gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts gro?e soziale Probleme. Arme Fluchtlinge und verzweifelte Glucksritter drangten ins Land, angelockt von der unter Volldampf laufenden Maschinerie des neuen industriellen Zeitalters. Rund 17 Millionen Menschen aus der Alten Welt landeten in den Jahren 1890 bis 1920 an der US-Ostkuste; weitere Zehntausende Asiaten kamen in die Staaten uber die Westkuste; und von Suden drangten spater Massen von Latinos uber die US-Grenze.
"Die romantische Idee vom Schmelztiegel Amerika", schreibt Black, "ist ein Mythos." Viele Neuankommlinge blieben lange Zeit unter sich, siedelten sich in eigenen Stadtvierteln an oder zogen im Trupp als Wanderarbeiter uber Land. Den etablierten Amerikanern gefiel das demografische Chaos nicht besonders. Wissenschaftler, Arzte und Okonomen wetterten mit pseudowissenschaftlichen Thesen gegen die ungeliebten Neuburger.
"Unser Land wurde von nordischen Menschen besiedelt und aufgebaut", schrieb etwa Lothrop Stoddard, ein fuhrender Eugeniker; doch nun sei "eine Invasion von Menschenhorden aus den Alpenlandern und Mittelmeerstaaten" erfolgt, erganzt durch "asiatische Elemente wie Levantiner und Juden".
Die eugenische Idee fiel auf fruchtbaren Boden. Zum Organisator und "Chef-Kreuzzugler" (Black) der eugenischen Bewegung fuhlte sich ein Maklersohn aus dem New Yorker Bezirk Brooklyn berufen: Charles Davenport, Absolvent der Elite-Uni Harvard, baute das Biologielaboratorium einer Brooklyner Hochschule zu einem eugenischen Zentrum aus. Das "Cold Spring Harbor Laboratory" auf Long Island sollte "die Gesetze und Grenzen der Vererbung" wissenschaftlich ergrunden, zunachst im Tierversuch.
Wenig spater verfolgte Davenport unverblumt rassistische Ziele: "Wir haben in diesem Land", verkundete der promovierte Biologe, "das schwierige Problem des Negers - einer Rasse, deren geistige Entwicklung weit hinter der des Kaukasiers zuruckgeblieben" sei. Um eine denkbare Vermischung beider Rassen schon im Ansatz zu verhindern, empfahl Davenport den "sofortigen Export der schwarzen Rasse". Andernfalls konne es so weit kommen, "dass unsere Nachkommen das Land den Schwarzen, Braunen und Gelben ubergeben und um Asyl in Neuseeland bitten mussen".
Solche Rede kam an beim amerikanischen Establishment. Die wohlhabenden wei?en Nachfahren der nord- und westeuropaischen Pilger, die sich in der Neuen Welt ausgebreitet hatten, furchteten, von den Massen befreiter Sklaven und vagabundierender Fluchtlinge bedrangt zu werden.
Um diese Bedrohung zu stoppen, benotigten "Amerikas Eugeniker zwei Dinge", schreibt Black, "Geld und eine Organisation", die neuen Ideen bekannt zu machen und zu verwirklichen. Mit Geschick und Chuzpe loste Davenport diese Aufgaben. Als besonders schlagkraftiger Verbundeter des Ober-Eugenikers erwies sich die gerade erst gegrundete Viehzuchter-Organisation "American Breeders Association" (ABA). "Die Ergebnisse, die wir durch die Unterdruckung der Schwachen und durch die Zuchtung nur der Besten erhalten, lassen sich beim Menschen genauso erzielen wie bei Rindern und Schafen", hei?t es in einem ABA-Text.
Auf Davenports Anraten hin beschloss bereits die erste ABA-Vollversammlung 1903, neben den standigen Komitees fur Pflanzen- und Tierzucht, einen dritten Ausschuss einzurichten: das Eugenik-Komitee. Dessen Mitglieder wurden beauftragt, "Methoden zu entwickeln, mit denen die Qualitat des Blutes bei Individuen, Familien, Volkern und Rassen registriert" werden konnte.
Schon im ersten Report des Komitees an die ABA hie? es beispielsweise, um die "mindestens zwei Millionen verelendeten, kranken, schwachsinnigen, beschadigten und kriminellen Elemente" in der amerikanischen Gesellschaft durchzubringen, mussten jahrlich "100 Millionen Dollar" aufgebracht werden. Die Summe konne man einsparen durch "Austrocknung des rei?enden Stroms defekten und degenerierten Zellmaterials". Als praktischen Tipp empfahl der Report: "strikte Trennung wahrend der gebar- und zeugungsfahigen Altersspanne oder sogar die Sterilisation".
Die Verfasser des Reports, allesamt erfahrene Zuchter von Rindern und Pferden, rechneten, dass etwa "zehn Prozent" - also knapp zehn Millionen Amerikanern - das Menschenrecht der Fortpflanzung entzogen werden musste. Offen war die Kardinalfrage: Wer genau gehorte zum "untergetauchten Zehntel" (Eugenik-Jargon).
Fur diese Mammutaufgabe grundete Davenport gemeinsam mit der ABA das "Eugenics Record Office" (ERO) und bestellte zum Chef des Statistikburos auf dem Laborgelande in Cold Spring Harbor den Dorfschullehrer Harry Laughlin aus dem Bundesstaat Missouri. Die Geschaftsgrundlage des ERO waren das Sammeln und die Katalogisierung menschlicher Stammbaume.
Im Sommer 1910 schickten Davenport und Laughlin die ersten Befragerkolonnen hinaus ins Land. Die Eugenik-Drucker selektierten in Gefangnissen und Irrenanstalten, in Kranken- und Waisenhausern, in Schulen fur Blinde und Taube die Insassen und ermittelten deren Leiden, Vergehen und Charaktereigenschaften, die sie als vererbt oder vererbbar einstuften. Zudem waren die ERO-Befrager darauf geschult, auf den Karteikarten auch ihre personlichen Beobachtungen zu verzeichnen - ob beispielsweise jemand einen "bloden" oder "amoralischen" Eindruck machte oder depressiv und verwahrlost ausschaute.
Uber die landesweiten Kommunikationsschienen der amerikanischen Viehzuchter und weiterer einflussmachtiger Geldgeber verbreitete sich das eugenische Konzept in Windeseile. Sogar Elite-Universitaten des Landes erlagen der "kompletten rassistischen Ideologie" (Black).
Columbia, Cornell und Brown etwa verliehen der Pseudowissenschaft die akademischen Weihen, als sie eugenische Kurse ins Lehrprogramm aufnahmen. Und in Harvard, Princeton und Yale entwickelten "die hellsten und klugsten Kopfe", so Black, "ein Verfahren zum Messen intellektueller Fahigkeiten, dem zufolge 70 bis 80 Prozent aller Schwarzen und Juden Trottel und Idioten waren".
In der US-Offentlichkeit entstand der Eindruck, dass das, was in Harvard und Columbia anerkannt wurde, so falsch nicht sein konnte. In Drugstores und auf Main Streets, auf Jahrmarkten und Viehauktionen verbreiteten "Eugenik-Experten" den Slogan: "Einige Amerikaner sind nur geboren, um dem Rest der Gesellschaft zur Last zu fallen."
In der Folgezeit begann eine regelrechte Jagd auf die Au?enseiter der Gesellschaft. Sie wurden in den Armenvierteln am Stadtrand eingesammelt, in abgelegenen Talern und Waldern aufgespurt, und auch in Schulen oder Gefangnissen wurde nach ihnen gefahndet. Nach der Festnahme kamen sie zunachst zur medizinischen Untersuchung; die Diagnose war schnell gestellt: "geistig verwirrt", "blind" oder "schwachsinnig", "epileptisch" lautete mancher Befund - oder schlicht "verarmt", "kriminell", "unmoralisch".
Fast immer entschieden die Arzte, dass die bei den Eingefangenen entdeckten "Defekte" erblich bedingt waren und weitervererbt werden wurden; folglich musse ihnen die Fortpflanzung verboten werden. Viele wurden in "Kolonien" interniert oder in Heilanstalten abgeschoben, die fur hohe Sterblichkeitsraten ihrer Insassen bekannt waren. Tausende andere wurden sterilisiert - mit erschlichener, aber auch ohne Zustimmung der Betroffenen.
Die Aktionen waren in der Regel nicht einmal illegal. Als erster US-Bundesstaat gab sich Indiana schon 1907 ein Gesetz, das eugenische Zwangssterilisationen erlaubte; 32 weitere Bundesstaaten folgten dem Beispiel. In etlichen Staaten wurde ein Modellgesetz als Vorlage benutzt, das im Eugenik-Hauptquartier von ERO-Superintendant Laughlin formuliert worden war.
Laughlins Wirkung blieb nicht auf Amerika beschrankt. Sein Modellgesetz fur die Zwangssterilisation von "Geistesschwachen" ubersetzten Hitlers Rassenhygieniker ins Deutsche und verwendeten Teile daraus fur ein eigenes Eugenik-Gesetz, das die Zwangssterilisation von rund 350 000 Menschen legal erscheinen lassen sollte. Laughlins Verdienste um die nationalsozialistische Eugenik belohnte die Universitat Heidelberg 1936 mit einem Ehrendoktortitel fur den ehemaligen Zwergschullehrer.
Der nimmermude Eugenik-Propagandist revanchierte sich, indem er beim Rassenpolitischen Amt der NSDAP den zweiteiligen Propagandafilm "Erbkrank" erwarb und in den USA fur dessen Verbreitung sorgte. Das Nazi-Machwerk wurde in High Schools von New York und New Jersey gezeigt; auch Sozialarbeiter in Connecticut mussten es sich anschauen.
Zu dieser Zeit hatten unabhangige US-Forscher bereits damit begonnen, die Eugenik als Pseudowissenschaft zu entlarven. Das Interesse der amerikanischen Offentlichkeit an der Eugenik flaute wahrend des Zweiten Weltkriegs stark ab. Das ERO wurde geschlossen.
Auch die Kenntnis von den Graueln der NS-Rassenfanatiker und die Verfahren gegen NS-Mediziner hinderten amerikanische Arzte jedoch nicht daran, weiter Zwangssterilisationen vorzunehmen. Noch in den siebziger Jahren wurde Hunderten Indianerinnen zwangsweise die Gebarmutter entfernt - unter anderem als Lernprogramm fur angehende Gynakologen kaschiert.
Erst im vergangenen April hob der US-Bundesstaat North Carolina das Gesetz auf, das unter bestimmten Voraussetzungen Zwangssterilisationen vorsah.
RAINER PAUL
--------------------------------------------------------------------------------
* Edwin Black: "War Against the Weak". Four Walls Eight Windows, New York; 552 Seiten; 27 Dollar.
Posted by maximpost
at 12:48 AM EST